Buenos Aires, 9.2.2004
Die junge Frau, die uns gegenübersitzt, heißt Sheila Weil. Wie die meisten Argentinierinnen hat sie langes schwarzes Haar und dunkle Augen. 25 ist sie, wenn wir sie richtig verstanden haben. Und gerade da liegt unser Problem, unser spanisch ist erbärmlich. Sie spricht sehr schnell, hallo, wer soll denn da irgendetwas verstehen? Doch sie ist es, die unser Problem lösen kann. Sheila ist Lehrerin, Spanischlehrerin. Eine Woche lang wird sie uns und Frederic mit spanischen Vokabeln und Grammatik füttern, bis unsere Köpfe rauchen. Ein Alptraum wurde wahr – wir sind wieder in der Schule.
Nach unserer „Winterpause“ zu Hause befinden wir uns nun auf der nächsten Etappe unserer Erdumrundung. Die winterliche Lethargie wich bereits am Flughafen in Düsseldorf kräftigen Adrenalinschüben, als man uns am Iberia Schalter beim Einchecken nicht abfertigen wollte, weil wir nur ein One-way-Ticket nach Südamerika hatten und zumindest die theoretische Chance bestand, dass man uns bei der Ankunft in Argentinien die Einreise verwehren und uns auf Iberia Kosten postwendend in den europäischen Winter zurückbefördern könnte. Nach kurzer Panik kamen wir auf die Lösung: Ein Weiterflug von Buenos Aires irgendwohin. Iberia wollte uns aus irgendeinem Grund kein Weiterflugticket ausstellen. Sie verwiesen uns an Lufthansa. Die Angestellte bei Lufthansa war noch zickiger, also zurück zu Iberia. Noch eine Stunde bis zum Abflug, langsam traten Schweißperlen auf unsere Gesichter. Nach einigen Diskussionen stellte man uns dann doch noch zwei Tickets für die Weiterreise nach Montevideo (Uruguay) aus. Die Reise konnte losgehen.
Wie man uns sagte, benötigt man ein Visum, wenn man ohne Rückflugticket nach Südamerika einreist. Mit Rückflugticket erhält man eben auch ohne Visum eine dreimonatige Aufenthaltserlaubnis. Dasselbe gilt, wenn man ein Weiterflugticket vorweisen kann. Der mutmaßliche Grund für diese Regelung ist folgender: Reist jemand ohne Rückflugticket und ohne finanziellen Rücklagen in ein südamerikanisches Land ein, müsste womöglich das Gastgeberland für den Rücktransport auf- kommen. Bedingung für die Ausstellung eines Visums ist in den meisten Fällen der Nachweis finanzieller Rücklagen für die Reise. Also, entweder Visum oder Aus- bzw. Weiterreise.
Noch keine 6 Stunden nach unserer Ankunft in Argentinien – die Zöllnerin hatte sich bei der Passkontrolle angeregt mit einem Kollegen unterhalten und unsere Einreiseformulare nicht einmal eines Blickes gewürdigt – stornierten wir den Weiterflug nach Montevideo. Die Kosten wurden uns zu 100% zurück erstattet. So umschifften wir die Klippen der Bürokratie auf elegante Art und Weise, wir hatten nicht wirklich vorgehabt, nach Uruguay einzureisen. Das Ticket nach Montevideo war so halt das Günstigste.
Zurück zu Sheila. Inzwischen haben wir drei Doppelstunden Spanisch absolviert und uns rauchen tatsächlich die Köpfe. Den Kontakt zu Sheila knüpften wir über das Milhouse Youth Hostel, der Jugendherberge, in der wir die ersten vier Nächte verbrachten. Sie spricht fast nur spanisch mit uns, was gut ist, denn die Mehrheit der anderen Argentinier tun das schließlich ja auch. Nur das wir kaum etwas verstehen. Dabei kann sie richtig gut englisch und wir würden uns nicht wundern, wenn sie sogar unsere Sprache sprechen würde, weil ihr Großvater aus Alemana stammt.
Etwas bleibt aber schon hängen, wir merken unsere Fortschritte beim Umgang mit Verkäufern, Kellnern und den Leuten auf der Strasse. Was bleibt Sheila schon anderes übrig, als uns mit Informationen zu überhäufen, schließlich muss sie uns nach nur 5 Doppelstunden auf die Menschen in Südamerika loslassen. Daraus resultiert für uns, dass neben den Erkundungen der Stadt sowie deren Umgebung auch das tägliche Büffeln spanischer Vokabeln und Redewendungen auf dem Plan steht. Dazu kommt noch die Planung der Reiseroute für die kommenden Monate, das Wie?, Wohin? und Wie lange?, ein Prozess, der mindestens genau so spannend und aufregend ist, wie das Reisen selbst. Nicht zu vergessen die Organisation der Weiterreise, wenn man dann mal zu einer Lösung gelangt ist. Doch dazu später.
Buenos Aires:
Fangen wir vielleicht besser zuerst mit allgemeinen Informationen über unser Gastgeberland an.
Argentinien ist mit 2.780.400 qkm Fläche das achtgrößte Land der Erde. Die Nord-Süd-Ausdehnung ist enorm – die Entfernung zwischen Feuerland und La Quiaca an der argentinisch-bolivianischen Grenze beträgt rd. 3.700 km, die größte Ost-West-Ausdehnung ungefähr 1.600 km. Im Westen grenzt Chile an Argentinien, die gemeinsame Grenze ist unglaubliche 5.300 km lang. Im Osten bzw. Nordosten grenzen Uruguay, Paraguay und Brasilien und der nordwestliche Nachbar heißt Bolivien. Rd 37 Mio. Menschen leben in Argentinien, davon ca. 12,5 Mio. im Großraum Buenos Aires. Die Menschen sind zu 95% Katholiken, die Staatssprache ist spanisch (castellano). Staatswährung ist der Peso, von 1992 bis Anfang 2002 war der Peso im Verhältnis 1:1 an den US-Dollar gekoppelt. Die Kopplung und der damit verbundene künstliche Werterhalt wurden Anfang 2002 aufgehoben und der Peso stürzte binnen kurzer Zeit auf einen Wechselkurs von 1 USD = 4 ARS (Peso). Heute beträgt das Verhältnis fast exakt 1:3. Der Wertverfall des Peso hatte für die Menschen katastrophale Auswirkungen: Der Wert der inländischen Ersparnisse sankt über Nacht um fast 70%. Das Bruttoinlandsprodukt sank dramatisch, die Inflationsrate betrug in 2002 bei konstantem Peso-Einkommen rd. 41%. Die wirtschaftliche und soziale Krise, die letztendlich für die Verarmung Argentiniens verantwortlich war, war die Folge der konstanten Überbewertung des Peso sowie schwerwiegender sozialer Probleme verursacht durch Steuerflucht, Bürokratie und Sparmassnahmen.
Erschreckend hoch ist die Zahl der Menschen, die für ihren Lebensunterhalt betteln müssen. Täglich werden wir von mindestens 20 Menschen um ein paar Centavos angesprochen, am häufigsten von Kindern. Dennoch sieht man die „neue Armut“ auf dem ersten Blick zumeist nicht. Nicht im Zentrum der Hauptstadt. Hier sind die Menschen mehrheitlich gut gekleidet und eine große Anzahl auch recht wohlhabend. Die kilometerlange Fußgängerzone auf der Avenida Florida könnte sogar irgendwo in Europa sein, schicke Läden mit Markenartikeln neben urigen Restaurants, dazwischen McDonalds und Burger King. Die Schuhputzer, die voll ausgerüstet (unglaublich, wie viele verschiedene Pflegemittel es gibt) hart für jeden Peso arbeiten müssen, unterbieten einander im Kampf um Kunden. Man findet sie an fast jeder Straßenecke, überwiegend jedoch im Bankenviertel und den Einkaufsstrassen Lavalle und Florida. Doch dazwischen immer wieder Straßenkinder, bettelnde Mütter mit Kleinkindern, verarmte Rentner. Auch ein paar Taschendiebe sollen in der Stadt am Werk sein, allerdings haben wir angesichts unserer „bodybelts“ (Geldgürtel, innen getragen) nicht viel zu befürchten.
Zur Stadt selbst. Um es vorwegzunehmen: Wir sind begeistert. Buenos Aires hat Europäische Architektur und Küche, gepaart mit südamerikanischen Temperament und Flair. Hohe Häuser mit schmiedeeisernen Balkonen, mit Glockentürmen, Erkern, Gauben und Kuppeldächern, Plätze mit Denkmälern, gemütliche Straßencafes, beinahe jedes europäische Land hat seine architektonische Visitenkarte hinterlassen. Manchmal fühlt man sich nach Paris versetzt, ein paar Strassen weiter könnte es eher Barcelona sein. Schaut man auf die Speisekarte der Restaurants, dominiert das Italienische. Pizza, wo man geht und steht, nach den Aussagen der porteños (Bewohner von Buenos Aires), die beste der Welt. Dazu Empanadas, das sind gefüllte Teigrollen, Pasta und Salate. Natürlich gibt es überall auch Fleisch, schließlich sind wir in Argentinien. Viel Fleisch, gut und günstig, von pollo (Huhn) bis chorizo (Rind), in jedem Restaurant, Cafe, Pizzeria oder sonst wo.
Die Plaza de Mayo ist das historische Zentrum der Stadt, rund um diesen Platz befinden sich die meisten historischen Gebäude, z.B. der rosafarbene Präsidentenpalast, die Kathedrale und der Cabildo, das ehemalige Ratsgebäude. Auch die Banca de la Nation mit seinen vier gigantischen Säulen befindet sich dort.
Alte Kirchen im Barockstil, der Kongresspalast, der irgendwie an das Kapitol in Washington erinnert und nicht zu zählende Museen komplettieren das Touristenmenü. Wirklich schön, aber für uns ist das Gesamtbild der Innenstadt, die Architektur der „gewöhnlichen“ Häuser, die um 1900 errichtet wurden und das Leben in den Cafes, Parks, auf den Strassen und Märkten das, was uns in Erinnerung bleiben wird.
Viel zu sehen gibt es auch in den umliegenden Stadtvierteln. In San Telmo z.B. treffen sich rund um den Plaza Dorrego jeden Sonntag Künstler, Händler und Touristen zu einem bunten Flohmarkt. Die Showeinlagen waren Geschmacksache, im Ganzen gefiel uns San Telmo in der Woche besser. Dann ist es dort sehr still. Rund um die Plaza Dorrego befinden sich einige tolle, alte Cafe-Restaurants, genau der richtige Ort, um bei einem guten Cafe con leche die Morgensonne zu genießen.
La Boca ist das alte Hafenviertel, in dem überwiegend die Nachfahren italienischer Einwanderer leben. Berühmt ist el Boca wegen drei Dingen: Zum Einen der originellen Wellblechhäuser rund um die Strasse El Caminito, die täglich viele Touristen anlocken, weiterhin wurde hier der Tango erfunden, schließlich kennt man El Boca wegen des Fußballclubs Boca Juniors, der Weltruhm erlangt hat. Diego Maradonna begann hier seine Weltkarriere. Die mit Schiffslack bemalten, bunten Wellblechhäuser hatten es uns mehr angetan, als das schmucklose Fußballstadion, auch wenn um diese sehenswerten Gebäude ein künstlich inszeniertes Touristenbramborium mit Kunstmarkt, Straßenmusikern und kopflosen Tangotänzern aus Holz zwecks Verblödungs-Fotomontage erschaffen wurde, um ein paar Tausend Touristen-Dollars abzuzweigen.
In Recoletta besuchten wir den Friedhof, auf dem neben anderen reichen und prominenten Argentiniern auch Eva Peron, der Engel der Armen, und Gattin von Juan D. Peron, dem ehemaligen Präsidenten des Landes, zur letzten Ruhe gebettet wurde. Recoletta ist ein reiches Viertel, der Friedhof ist da keine Ausnahme. Mausoleen so groß wie Denkmäler und Kathedralen im Kleinformat beherbergen die Särge und sterblichen Überreste reicher und wichtiger Personen der Gesellschaft. Beim Anblick der prunkvollen Grabstätten werden einem die Gegensätze des Landes wieder bewusst. Hier stellen die Reichen ihren Reichtum zur Schau, in den immer weiter wachsenden Siedlungen der Außenbezirke rund um die Hauptstadt hingegen herrscht bitterste Armut. Das Grab der Familie Duarte, in dem Eva Peron begraben liegt, ist noch eines der schlichtesten auf dem Friedhof.
Eine Woche sind wir jetzt hier. Die ersten vier Nächte und Tage waren wir im Milhouse Youth Hostel, einem Backpackertempel, in dem es 24 Stunden am Tag hoch her geht, untergebracht. Zuviel Gegröle, zu viele Durchsagen über Lautsprecher (wie in einer Bahnhofshalle, ehrlich), zu familiäre Atmosphäre. Nichts für Individualisten. Zwei unserer 3 Doppelstunden Spanisch fanden im Aufenthaltsraum des Milhouse statt, beim dritten Mal flüchteten wir in ein Cafe, der Ruhe wegen. Am Freitag sind wir dann ins Marbella Hotel umgezogen. Ruhiger, günstiger, geräumiger und – privater.
Können wir gut gebrauchen, die Ruhe, denn die Planung unserer Weiterreise läuft auf vollen Touren und nimmt uns auch dementsprechend in Anspruch. Noch zwei Doppelstunden Spanisch und es geht los……………………..